Sarah stand neben dem Verteilerkasten, die eingegipste Hand im Mantel, in der anderen eine Zigarette, an der zog sie noch mal, die ließ sie, als das Taxi keinen Meter vor ihr zu stehen kam, ins Licht der Scheinwerfer fallen. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich auf den Beifahrersitz, der Fahrer fuhr die kaum beleuchtete Steigung hinauf, am Gleisbett der Tram entlang, an der Kreuzung fragte er mit polnischem Einschlag:
„Wie letztes Mal?“
Sarah nickte, der Blick des Fahrers ging auf die Fahrbahn, zur Ampel, –
„Da vorne links.“
Am Armaturenbrett streiften Schatten durchs Orange der Laternen, fielen auf Sarahs Strümpfe, die Hände, den Mantel, der Rosenkranz am Rückspiegel pendelte im Takt des Blinkers. Die Perlen begannen zu hüpfen, als sie übers Pflaster der Nebenstraße fuhren, drüberplatterten, als ginge den Reifen die Luft aus, zwischen Fassaden mit Fenstern schwarz wie Löcher.
Sarah hielt sich die aus dem Gips stehenden Finger, von denen ließ sie ab, strich sich nur mehr, eine nach der anderen, mit dem Daumen über die Kuppen. Dann nahm sie aus der Manteltasche das Handy, das zeigte 3 Uhr 11, ein Paar verkabelter Kopfhörer, über die Anzeige lief ‚Queen of the Night – A Drow-‘. Sie legte sich das Handy mit der Anzeige nach unten auf den Schoß, begann die abgehenden Kabel umeinanderzuzwirbeln, drehte sie wieder entzwei, ließ sie los. Sie stellte die Lautstärke leiser, hielt das Handy fest, fasste an den Gips, wieder an die Kabel und drehte.
Der Fahrer sah zu ihr, bog auf eine Hauptstraße, auf die ersten, schwach beleuchteten Auslagen folgte Betondunkelheit, darin eingefasst die Lichter weniger Wohnungen, rechteckig und einsam, bis hoch zu den Kanten am Mondgrau der Wolken.
Sarah war ein Stück nach vorne gerutscht, den Blick hatte sie zur Seite gerichtet: Das Flackern der Neonrose im Fenster der Eckkneipe, das Glänzen des Absperrzauns, die Brachfläche, Brandwände, wie aufgespannt. In den Baum am Straßenrand griff der Wind, dahinter Schwarz, Umrisse, die Wolken, dann, blank und weiß wie der Gips, Hochhauskorallen, die kehrten mehrmals wieder, ohne in die Nähe zu rücken.
‚Für eine sichere Zu-‘, ‚Wir vermie -‘, ‚Erlebe das -‘, das hellere Licht einer Tankstelle ohne Autos, aufgebrochene Gehwegplatten, auf der Windschutzscheibe ein Regentropfen, der zuckte auf der Stelle. Das Handy auf Sarahs Schoß vibrierte, sie hielt es, ohne nachzusehen, fest, als es aufgehört hatte, hielt sie es weiter, die Anzeige des Taxameters schaltete auf 18.50. Sie setzte sich aufrecht, legte das Bein übers andere, ließ das Handy los, wieder strich sie sich mit den Daumen über die Finger.
Die Finger des Fahrers tippten gegen das Lenkrad, Scheinwerfer–licht fiel in den Rückspiegel, erhellte das Wageninnere – ein Taxi, das überholte und scherte nach rechts über die Kreuzung. Der Fahrer fuhr geradeaus, vorbei an leeren Parkplätzen vor Supermärkten, am Straßenrand ein Einzelner mit Jeansjacke, Kapuze und Glutpunkt vorm Gesicht.
Sarah steckte das Handy in die Manteltasche, rutschte ein Stück nach vorne, ihr Brust hob und senkte sich wieder.
Die Beleuchtungen hatten zugenommen, warfen Schattenfächer auf Vorplätze, ein angestrahltes Reiterstandbild, Schaufenster spiegelten sich in Schaufenstern. Sarahs Hände lagen jetzt ruhig, ihre Augen waren aufmerksam ohne zu fixieren, auch nicht die Leute, einzeln oder zu zweit, in großen Abständen zueinander. Erst als zwei Regentropfen aufeinander zu über die Scheibe zitterten, das Licht der Ampeln aufnahmen und mit sich trugen, blieb ihr Blick für länger an etwas haften. Dann war eine Laterne aus, eine Tafel zeigte Uhrenwerbung, im Doppeldeckerbus saß oben ganz vorne ein weiterer Einzelner, in einer Bar brannten Kerzen, der Brunnen war ausgeschaltet und im Schatten, der schwarze Fluss glänzte, Geschenkpapier wurde über die Straße geweht, unter der Brücke hatte wer sein Zelt aufgebaut, eine Schaufensterpuppe stand nackt in der Auslage, die Ecke zwischen Eingang und Hauswand war schmutzig, auf einer Wand stand ‚Fickteuchallee‘.
Der Fahrer hatte längst aufgehört, zu Sarah zu sehen, die linke Hand lag auf dem Lenkrad, die Augen wirkten wach und müde vom Leben, auch war ihm ein Ernst anzusehen, wenn er in Straßen bog, davor in den Seitenspiegel sah, die Geschwindigkeit gleichmäßig hielt. Jetzt, da die Ampel auf Grün schaltete, fuhr er nicht gleich los, erst, als Sarah zu ihm sah. Er lenkte in eine Einbahnstraße, in der die Schatten hart waren, vom Pflaster an die Wände sprangen, sich in übereinanderfallenden Halbschatten wieder verloren. Am Ende der Straße waren die Umrisse einer Kirche zu sehen, an der Fahrbahn Blitzleuchten, ein Absperrzaun, dahinter der aufragende Klapparm des Baggers. Der Fahrer fuhr dicht am Zaun entlang, Sarahs Blick ging nach oben, die Straße um die Kirche war aufgerissen, die Rohre freigelegt, dazu ein Haufen Erde. Der Scheibenwischer verdrängte mit einem Grunzen die mehr gewordenen Regentropfen, der Fahrer folgte den Umleitungsschildern, die führten an die Stelle zurück, an der das Geschenkpapier vom Wind über die Fahrbahn getragen worden war, und wieder ging es über die Brücke, und Glanz lag auf dem Fluss, und der Brunnen war verschattet, und noch immer brannten die Kerzen an den Tischen am Fenster der Bar, und jetzt leuchtete auf einem Hausdach ein Schriftzug, war die Scheibe der Tramhaltestelle geborsten, das Scheinwerferlicht glitt über die Gleise, ein Haus hatte ein Gesicht, die Pfützenbilder sprudelten.
Sarah hatte die Kopfhörer abgenommen, der Regen prasselte, spritzte auf der Motorhaube, die Reifen zischten auf dem wider–glänzenden Asphalt. Über ihr Gesicht strichen die Schatten der Regentropfen, verschwanden, wurden von neuem aufgetupft, wanderten, verschwanden, und auch ins Gesicht des Fahrers fielen sie, der jetzt einen Ausdruck in den Augen hatte, als bereitete sich etwas vor ihn ihm.
Ein drittes Mal fuhren sie über den Fluss, kamen in die Straße der leerstehenden Läden, auf einen Platz, der keiner war, die Ampel an der Kreuzung war auf Rot. Die Tropfen kullerten über die Scheibe, setzten sich zueinander, verschmolzen, die Scheibenwischer gaben die Sicht auf die fensterlose Schmalseite des Plattenbaus frei, auf die schimmernde Hecke, die Altbauten gerade zu. Neue Tropfen blieben auf der Stelle, bis welche von oben sie mit sich nahmen bis fast ans untere Ende der Scheibe, dort vom Baum gerissen wurden, der vergitterten Apotheke, dem Blumenladen. Die Ampel hatte schon gewechselt, als sie immer noch dastanden, und diesmal schaute Sarah nicht nach dem Fahrer, und der Fahrer zeigte keine Regung, und die Schattenpunkte kamen wieder, setzten sich in Sarahs Blässe, zwischen die vom Licht der Armaturen vertieften Gesichtszüge des Fahrers. Beide saßen sie da und schauten, hörten den Regen, das Fiepen der Scheibenwischer, und es war ein einziger Ablauf, als das Taxameter auf 35,60 schaltete, der Fahrer es anhielt und die Schweibenwischer unten blieben. Tropfen für Tropfen füllten sich die Zwischenräume, verbanden sich zum Film, aus den Schattenpunkten wurden Schlieren, die Bilder begannen zu schwimmen. Bald waren nur noch Farben und Formen zu sehen: des Baumes, der Straße, der Häuser, der Fenster, der Wände.
So standen sie für Minuten: Die Ampeln wechselten, wechselten wieder, der Regen hielt seinen Takt, manchmal eine Bewegung, an den Umrissen des Baumes, den Kanten der Häuser, ein Taxi, mehr Lichtfleck, rauschte vom einen Ende des Bildes ins andere, ehe das Tropfen leiser wurde und ungleichmäßig, und auch dann noch schwiegen sie.
Es war der Fahrer, der, als es aufgehört hatte, zu Sarah sah. Als sie nicht reagierte, fiel sein Blick auf ihre Hände, die hatten aufgehört, sich an den Fingern zu berühren, lagen einfach auf ihrem Schoß. Er schaute wieder nach vorne, drehte den Schlüssel, der Scheibenwischer zog seinen Teilkreis: Über den Altbauten war jetzt die Spitze des Kirchturms zu sehen, das Grün der Ampel war auf der Fahrbahn verteilt, die Wand des Plattenbaus war wie vollgesogen, der an seinem Rand sichtbar gewordene Mond war dünn. Das Taxameter blieb bei 35,60, die Tropfen auf der Motorhaube waberten, sprangen, als sie übers Pflaster tuckerten auf die leuchtenden Büsche zu. Sie kamen auf eine Umfahrungsstraße, folgten den durchs Lichtmastengelb gezogenen Spuren, im Hintergrund die Finsternis der Kleingärten. Einmal waren zwei leuchtende Punkte zwischen den Bäumen zu sehen, ein Tropfen pflatschte in die Mitte der Scheibe, auseinandergesplittert in Kleinstkörnchen, dass es aussah wie Sternenhimmel.
Nachdem sie noch ein Stück am Rand des Parks entlang gefahren waren, kamen wieder Altbauten, eine Brücke, ein Spielplatz in einer Baulücke mit offen gelassenem Eingang, da sagte Sarah leise:
„Langsamer.“
Sie hatte die freie Hand unter den Oberschenkel geschoben, die Schneise des Gleisbetts schwang sich den Abhang hinunter, über den Häusern der Anfang einer Dämmerung. Sie nahm aus der Manteltasche einen Fünfziger, hielt ihn zusammengefaltet zwischen den Fingern, von hinten kam die Straßenbahn, sprang in die Wassertropfen am Seitenfenster.
Der Fahrer hielt auf Höhe des Verteilerkastens, den Fünfziger sah er, als Sarah ihn ihm hinhielt, erst nur an, und nahm ihn dann, mit der Andeutung eines Nickens, doch. Ohne ein Wort zu sagen, stieg Sarah aus, das Taxi blieb noch stehen, sie nahm eine Selbstgedrehte aus der Manteltasche, die steckte sie sich an. Von der anderen Seite der Straße war das Rufen der Nachtigallen zu hören, das Wiederangehen des Motors, sie lehnte sich an die Eingangstür, schaute zur Kreuzung hinunter, dann ließ sie die Zigarette fallen.