Vom Warten

Früher war Warten Zeitverschwendung. Ich wollte schnell fertig werden, woandershin, wo was passiert, die Zeit nützen, deshalb zumindest ein Buch dabei haben, das sich aber nie so recht lesen ließ, denn das Warten war nicht einfach nur Dasitzen oder Dastehen, das Warten war Gezogenwerden, Eingespanntsein in eine Frist, das immer etwas abfließen ließ von der Aufmerksamkeit, die das Lesen braucht. Daher auch die vielen Bilder in den ausgelegten Heften in den Warteräumen der Arztpraxen zum Blättern. Lange begangener Fehler also – lesen wollen statt zu blättern, und dann doch, aber eben wie beiläufig, hineingleiten in einen Text, das Warten auf einmal vergessen, im Spiegel, im Stern, in der Vogue. Wo sie lagen, wurde das Warten leichter, als seien sie nur dafür gemacht – undenkbar, sie irgendwann anders aufzuschlagen.

Heute warte ich ohne Buch, ich blättere auch nicht. Ich sitze oder stehe am liebsten nur da. Die Frist spüre ich kaum, ich werde nicht gezogen, die Aufmerksamkeit bleibt. Ich richte sie auf die Blicke und die Gedanken, zu denen es kommt, ohne ein Dazutun, die inneren Bilder, die auftauchen, als sei es ihnen jetzt endlich erlaubt.

Ein solches Bild ist das der alten Leute früher, die ganze Nachmittage aus dem geöffneten Fenster auf die Straße schauten, einem zunickten, wenn man sie grüßte, und die auch am nächsten Tag da waren, die Hände auf dem Fensterbrett verschränkt, den Blick über die immergleiche Hecke, den immergleichen Zaun, auf das immergleiche Nachbarhaus und die immergleiche Straße mit dem immergleichen Gehweg gerichtet, und während wir uns damals nichts dabei dachten, es vielleicht ja sogar für die Aufgabe der alten Leute hielten, dass sie, immergleich, aus ihren Fenstern schauten, um dann, um Punkt 18 Uhr von ihm zu verschwinden, und um später, wenn es noch warm war und der Tag lang, vielleicht noch einmal herauszuschauen, frage ich mich heute, ob es ihnen besser gefallen haben könnte, wenn wir, in ihr Blickfeld eingetreten, schnell wieder aus ihm verschwunden waren, und sie ihre Hecke und ihren Zaun, ihr Nachbarhaus und ihren Gehweg wieder für sich hatten, ohne Ereignis und Veränderung.

Auch wenn ich es nicht annehme, so frage ich es mich, weil ich, einmal wartend, froh bin über Gleichmäßigkeit und Ruhe, auch selber gleichmäßig werde und ruhig und frei, die Umgebung mit zweiten, dritten, vierten Blicken zu sehen – die Wand und den Stuhl dort, den Boden, die Flächigkeit der Gleise und der Böschung und des weißen Verteilerkastens, als wären sie aufgemalt auf eine Leinwand als Kulisse. Ganze Räume lassen sich so durchschauen, ihre letzten Winkel, von denen man zu spüren meint, dass sie, kaum betrachtet, selbst warten, um aus ihrer Unscheinbarkeit herauszutreten. Je gewöhnlicher der Anblick, umso mehr wird das Sehen ein Erschließen, das Warten Gelegenheit, sich der Dinge, die immer da sind, bewusst zu werden, und der Außergewöhnlichkeit dessen. Der Stuhl nämlich ist wirklich da, und der Wind weht, und davon macht etwas ein Geräusch, und die Blätter fallen nach unten, und neben einem und gegenüber sitzen Menschen, sitzen da, blätternd, oder auf Geräte starrend, die sie mit ihren Händen halten. – Ein Glück, wenn keiner von ihnen herschaut.

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