Die blinden Passagiere

Eine junge Frau, zwei junge Männer, alle drei braungebrannt, haben sich, im ganzen Wagen hörbar, an einen der Vierertische im offenen Abteil gesetzt. Sie waren auf dem Weg nachhause, wo die Party nach 72 Stunden Festival gleich weitergehen soll. Bei Essen aus der Tubberbox erzählen sie sich die letzten Tage noch einmal nach, wechselnd zwischen Enthusiasmus und Abgeklärtheit – übersprungsartiges Lachen als Scharnier. Es reichen ihnen Stichwörter, um sich zu verstehen, um sich die Überwältigungen aufzurufen, die sie nicht recht übersetzen können ins Sprachliche und Bildliche – der unbeteiligte Zuhörer aber mag ihnen glauben, was damit gemeint ist, wenn die Musik ‚voll arg’ war und die Leute ‚so entspannt’ und wenn da auf einmal ‚so ein totales Verstehen irgendwie’ da war. Das Abgeebbte in ihren Stimmen, manchmal noch aufgischtend, zeigt die Überflutung an, die sie erfahren haben müssen. Freiheit durch Entgrenzung und dann die Frage, warum das nicht überall so sein kann, und wenn das mal alle erleben würden, wie sich die Gesellschaft dann endlich einmal verändern könnte. „Voll!“

Dass der Rausch vorbei war, die Freiheit wieder auf die Koppel geführt, war bereits spürbar gewesen in ihrem Bemühen um Vergewisserung und Einordnung. Zunehmend aber schien es, als sitze am Tisch noch jemand viertes, ein Ausgeschlossener, dem eine eingeschworene Gruppe spüren ließ, wie sehr er nicht dazugehörte, wie wenig er sie anging im Grunde, wie unwichtig und unwert er war – und wie sehr die Gruppe eine Lust daran hatte.

Allerdings wussten sie nicht, dass es verboten war, den Namen des Opfers, das sie ihrem Miteinander machten, auszusprechen, taten es und wurden sogleich bestraft – der Vierte im Bunde wurde sichtbar: Die schönen Jungen hatten sich einen steifen Deutschen dazugesetzt, kleinlich, korrekt, eine Witzfigur mit Vorgarten und dämlichen Vorurteilen, ohne Geschmack und voller Ressentiments. Da hockte ein Rassist, Sexist, Bürokrat und Bonussammler bei ihnen mit schwitzigen Fingern und Bluthochdruck, zerfressen von Neid und geizig, unfrei, blöd, zwanghaft. Über ihn zu triumphieren war ihnen wichtig, als wäre die Vergleichsreferenz Spießer nicht so tief angelegt, dass man nur verlieren kann.

Mit einem Mal waren sie ihre Aura, von der man sich hätte anstecken lassen wollen, los. Ihre Selbstvergewisserung klang nun nach Selbstgefälligkeit, ihr Sprechen über den Rausch, als sei er eine Leistung, eine Leistung, die prämiert gehört, als hätten sie sich schon zu sich selbst überwunden. Der zu Überwindende aber war noch immer da und färbte ab auf sie und auf die stolzen Erzählungen von ihren Einsichten auf Droge. Vor der vorbeifliegenden Landschaft bei über 300 km/h wirkten sie wie welche, die sich zu früh freuten, die dachten, weil sie in Bewegung waren, hätten sie den Feind bereits abgehängt.

Als die Zugfahrt durch die sich verzögernde Ankunft aufhörte, selbstverständlich zu sein, wurden sie nervös, empörten sich in der Sorge, den Anschluss zu verpassen. Immer wieder schauten sie auf ihre Handys, begannen zu rechnen, suchten in der Annahme, das Geschehen so beeinflussen zu können, nach der Schaffnerin. Schließlich die erlösende Durchsage, der Anschlusszug warte. Mit Gebärden abermaligen Triumphierens packten sie ihre Sachen, dass es wieder im ganzen Wagen zu hören war. Nur der Vierte war schon mal leise vorgegangen. Er wartete am Ausgang auf sie.

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