Gesellschaft

Neujahrsvorsatz

Nichts aus sich machen, nicht an sich arbeiten, kein Ziel verfolgen, keine Erfolge erzielen, schlechter werden, Fehler machen, unfreundlich sein, unzufrieden sein, untätig, tatenlos, ahnungslos, Durchschnitt, sich nicht einmal schämen, sich klein machen, sich Feinde machen, sich dem Schicksal überlassen, sich langweilen und andere, die Zeit verschwenden, keinen Plan haben, scheiße aussehen, das so lassen, […]

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Das Leben ein Entwurf

Wer will man gewesen sein? Was erreicht, gemacht, erlebt haben bis 30, bis 40, oder, Überschrift ganzer Listen zum Abstreichen und Punktesammeln: ‚before you die’. Das Leben wird im Futur II geschrieben und ein jeder ist sein eigener Kurator, als ob es eine große Endausstellung auszurichten gäbe mit Sektempfang und voll Vorerwartung auf das Publikum,

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Kants Erben

Vor der Arztpraxis wartet ein dicker Mann im Anzug, in der Hand eine Aktentasche. Alles an ihm strahlt missmutige Anspannung und die Bereitschaft aus, einem beliebigen anderen dafür die Schuld zu geben. Als sein Handy klingelt und er abhebt, richtet er sich auf und fordert den Anrufenden in professionellem Tonfall auf, ihn in zwei Stunden

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Zähne zeigen

Im Café im Literaturhaus sitzen am Tisch neben uns zwei Paare um die 60. Eine der Frauen berichtet über ihre Faszination für den Buddhismus, in dem es nicht darum gehe, sich gegen sein Schicksal aufzulehnen, sondern es anzunehmen. Nicht auf die äußeren Umstände, nur auf die innere Haltung komme es an. Sie erzählt begeistert von

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Die blinden Passagiere

Eine junge Frau, zwei junge Männer, alle drei braungebrannt, haben sich, im ganzen Wagen hörbar, an einen der Vierertische im offenen Abteil gesetzt. Sie waren auf dem Weg nachhause, wo die Party nach 72 Stunden Festival gleich weitergehen soll. Bei Essen aus der Tubberbox erzählen sie sich die letzten Tage noch einmal nach, wechselnd zwischen

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Kinder Gottes

In der geräumigen, schwach ausgeleuchteten Wohnung fand die Geburtstagsfeier von Julia statt. Die Kinder spielten Räuber und Gendarm und rannten durch den gewundenen Gang und die zahlreichen holzvertäfelten Räume. Ich saß auf einem schwarzen Ledersessel im Wohnzimmer, vordergründig in ein Buch vertieft und hörte ihr Lachen und Schreien. Wie alle fremden Kinder, die sich in

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De-Montage

Was ist zu tun in einer Welt, die in solch einer Geschwindigkeit und Dimension umgebaut wird, dass kein Denken es mehr fassen kann, wird Heidegger gefragt im mittlerweile berüchtigten Spiegel-Interview vom 31. Mai 1976, das eigentlich zehn Jahre früher entstanden ist, aber erst nach Heideggers Tod veröffentlicht werden durfte. In dem an Ungesagtem allzu reichen

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Erfolg

Manche Menschen gehen wie Formelsammlungen durch die Welt, als ließe sich alles, worauf es ankommt, in Terme und Variablen fügen. Das Leben wird so selbst zu einer Ansammlung von Gleichungen, Aussagen und Lösungen, überprüfbar, kontrollierbar, disqualizifierbar das, was sich nicht logisch darstellen lässt. Dass die Zahlen und Zeichen, mit denen sie umgehen, ihre eigene Geschichte

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Krieg im Frieden

In einer Welt, in der niemand mehr lügt, bringt die Wahrheit zurück, wer als erstes wieder damit anfängt. Der Satz lag am Wegesrand auf der Suche nach einer Analogie für die angebliche Rückkehr des Krieges. – ‚Angeblich’, weil es keine eigentliche Rückkehr ist, sondern eine räumlich vermittelte Wiederbewusstmachung, die unbequemer ist als die freiwillige Selbstbeschäftigung

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Herr und Knecht

Auf dem Gehweg vor mir eine kleine, dickliche Frau, links und rechts die Einkaufstaschen in Händen. Sie keucht durch ihren Mundschutz, den sie nicht abgesetzt hatte, nachdem sie aus dem Supermarkt gegangen war, dem günstigeren der beiden nah beieinanderliegenden. Eine andere Frau, von dem Schlag derer, die sich afrikanische Löwenhunde zulegen, fährt auf dem Fahrrad

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Trägheit des Herzens

„Ja, sorry!“, sagt das Kind zum anderen, dem weinenden, wie es das von seinen Eltern gelernt hat, die es sich gemütlich gemacht haben in ihren Sprechweisen wie in ihren abgesicherten Lebensverhältnissen. Ein ‚Entschuldigung’ ist das nicht, das klänge nach Eingeständnis, und Eingeständnis wäre, das hat das Kind bereits gelernt, Schwäche. ‚Sorry’ dagegen ist irgendwas. Ein

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Der Aufstieg des Menschen in die dritte Dimension

Ein Punkt bewegt sich die Straße entlang auf dem digitalen Stadtplan, daneben steht „Noch 6 Minuten“. An einer Kreuzung hört der Punkt auf sich weiterzubewegen, erst nach einigen Sekunden springt er ruckartig vor und ändert die Richtung. Er folgt nun, Sprung für Sprung, der breiten Straße, die nach Osten führt, daneben steht: „Noch 4 Minuten“.

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Herzwurzler

„Die Vietnamesen haben ja wenigstens noch gekämpft!“, sprach markig der Herr im Sakko ins Handy am Ohr, als er an mir vorbeieilte im Bürgerkampfgebiet mit den Verniedlichungsformen auf den Ladenschildern. Vom Krieg meint man hier ja vielleicht zurecht etwas zu verstehen – eine legitime Täuschung, sozusagen. „Ein Jahr lang haben die sich noch gewehrt gegen

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Die Mutigen

Jedes Mal, wenn mir jemand, meist männlich und in Bomberjacke, begegnet, dessen Gesicht und Hals überzogen sind mit eintätowiertem Dornenornament oder den alten Erkennungszeichen der Häfltlinge, fällt mir ein Begriff aus dem Eisfach Luhmannschen Verwaltungssprechs ein: ‚Komplexitätsreduktion’. Gemeint sind: Vereinfachung von Entscheidungswegen und Verringerung von Ungewissheit – neben Zugehörigkeit, Anerkennung und Verbindlichkeit die Hauptmittel gegen

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(Ent-)Scheiden können

Als letzte Woche beim Europameisterschaftsvorrundenspiel zwischen Dänemark und Finnland der Däne Christian Eriksen ohne Fremdeinwirkung auf den Rasen fiel, dort seltsam unbewegt liegen blieb, man schließlich seine ins Nichts starrenden Augen sehen konnte, war es, als kehrte ein Gegner aus uralter Zeit zurück, von deren Moder er sich Schockwellen verbreitend abschüttelte. In das Spiel brach

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Geschafft haben, geschafft sein

Beim Vormittagsspaziergang durch die gesäuberten Viertel in Prenzlauer Berg überall Zeugnisse davon, dass hier lebt, wer sich selbst gehorcht. Wer sich nämlich nicht selbst gehorcht, muss anderen gehorchen – sagte auf Bibeldeutsch schon Nietzsche und sprach vom Willen zur Macht. Leistung muss sich lohnen, sagen die bürgerlichen Parteien – dass sie die Selbstdisziplinierung mitmeinen, bleibt

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Ungefiltert

Erschöpft und aufgedreht von der durchtanzten Nacht, herrlich ungewaschen, liege ich im Morgenlicht auf der Matratze am Boden meines Zimmers im vierten Stock. Solchermaßen liegend schaue ich aus dem geöffneten Fenster. Das graue Haus von gegenüber, in dessen Fenstern man fortwährend das Fernsehprogramm der Bewohner verfolgen kann und dessen Balkon blickdicht mit Sonnenschirmen verstellt ist,

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Anders gedacht

Bei merve zu lesen vier Gespräche zwischen dem sich selbst in Anführungszeichen setzenden Maoisten Joachim Schickel und Carl Schmitt. Vor allem ihre Diskussion über den Partisanen und das Freund-Feind-Thema ist fruchtbar, beide sind an der Sache orientiert, gegenseitige Wertschätzung ist zu spüren. Auch Benjamin und Taubes, beide selbst- oder fremdernannte Gegenspieler Schmitts, haben sich in

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Zu Robert Walsers „Der Gehülfe“

Manche Menschen haben ihr Leben lang das Gefühl, Schüler, Angestellte, Untergebene zu sein. Das sind nicht die wesensmäßig Gehorchenden und Erfüllenden, denn die gehen auf in dieser Seinsart und bemerken sie nicht. Die sich immer als Schüler Fühlenden sind die, die sich in der Anwesenheit von Autoritäten (und Geliebten) ihrer Bewegungen und Sprechweise allzu bewusst

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Die Sprache zur Zeit

Beim Verfassen des vorangegangenen Textes über den Fußball ein seltsames Gefühl der Befremdung. Bereits mit den ersten Sätzen drängten sich Begriffe einer vorgefertigten Sprache auf. Es dürfte sich früher schon nicht gelohnt haben, über den Fußball zu schreiben. Eine Flanke ist eine Flanke, sie wird geschlagen. Das noch einmal zu sagen wirkt abgegriffen, es anders

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Bürgerliches Trauerspiel

Als ich zuletzt in einem Neuköllner Bücherantiquariat war, unterhielten sich der Antiquar und ein Stammkunde über die Verbürgerlichung des Fußballs. Sie zeichneten sie nach vom arbeitsteiligen Kick-and-Rush der englischen Arbeiterklasse hin zum alle gleichermaßen einbindenden Ballbesitzfußball à la Guardiola in Zeiten der familienfreundlichen Stadien und des Investments. Hatten die nach dem politisch begründeten Ausschluss Jugoslawiens

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Auf Amtswegen

Bürgeramt Prenzlauer Berg, Haus 9, Vorgangsnummer 188786, „Was kann ich für Sie tun?“. – Wir saßen einander gegenüber, getrennt durch eine Plexiglasscheibe mit Durchlass nur für die Dokumente – Frau M., die zuständige Sachbearbeiterin, und ich, der mit dem Anliegen und dem Reisepass, um belegen zu können, dass ich der bin, der ich vorgebe zu

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