Bürgerliches Trauerspiel

Als ich zuletzt in einem Neuköllner Bücherantiquariat war, unterhielten sich der Antiquar und ein Stammkunde über die Verbürgerlichung des Fußballs. Sie zeichneten sie nach vom arbeitsteiligen Kick-and-Rush der englischen Arbeiterklasse hin zum alle gleichermaßen einbindenden Ballbesitzfußball à la Guardiola in Zeiten der familienfreundlichen Stadien und des Investments. Hatten die nach dem politisch begründeten Ausschluss Jugoslawiens aus dem Urlaub zurückgeholten Dänen 1992 mit – angeblich – unbekümmertem Spaßfußball noch Überraschungseuropameister werden können (gegen die wohl zu siegesgewissen Deutschen im Finale), seien die Gewinner im verwissenschaftlichten Fußball von heute vorhersehbar geworden und die Länderturniere EM und WM zu Messen verkommen, die nur noch der Marktwertsteigerung einzelner Spieler dienten.

Als jemand, der den Fußball seit Mitte der 1990er mit abnehmender Anteilnahme mitverfolgt, konnte ich ihre Entfremdung verstehen. Je mehr Geld von Sponsoren und Fernsehsendern floss, je mehr Werbeverträge von Spielern und Trainern abgeschlossen wurden, umso wichtiger wurden Planung und Kontrolle. Raumdeckung, eingeübte Spielzüge und Laufwege, die Ballrückeroberung im Kollektiv, sagten auch die beiden Herren am Kassentisch nicht ohne Anerkennung, haben den Fußball dynamisch werden lassen wie noch nie. Die Spieler, in sogenannten Nachwuchsleistungszentren zu Fachkräften ausgebildet, sind technisch, taktisch und körperlich entwickelter als alle Spielergenerationen zuvor. Vorangetrieben vom Privatfernsehen, das sich in den 1990er Jahren die Übertragungsrechte reihenweise gesichert hatte, wurde der Fußball zum Event, sein Hauptversprechen: Emotionen.

Einen ersten, gewollten, Höhepunkt erreichte die Entwicklung im Jahr 2006 in Deutschland, als sich schon länger abgezeichnet hatte, was sich in Zidanes Abgang im WM-Finale versinnbildlichte: Die großen Einzelcharaktere, die noch in den 90ern als Libero oder auf der 10 ein ganzes Spiel führen und ihm ihr Temperament aufdrängen konnten, verschwanden. Die Einzigartigkeit der fortan bestimmenden Spieler, Messi, Cristiano Ronaldo, Iniesta, war bereits in das System integriert, ihre Technik so durchschlagend und präzise, dass sie mitunter klinisch wirkte.

Einstige Straßenfußballer wie der immerlächelnde Ronaldinho dagegen galten von einer Saison zur nächsten als zu freigeistig, um nicht zu sagen: unkalkulierbar. Die um 2012 in den Neuköllner Bars verbreitete Sympathie für die schweigsamen Charismatiker Pirlo und Xabi Alonso war bereits Romantik: Die beiden letzten großen Spielmacher, bei denen Effektivität noch von Eleganz überstrahlt wurde, wären für ihre Position vor der Abwehr heute zu langsam, zu schmächtig, zu wenig lauffreudig, mögen ihre Pässe und Freistöße noch so sehr der line of beauty and grace nahekommen.

Gleichzeitig mit dem Verschwinden des Künstlers trat der an den Stammtischen als „Typ“ gefeierte Spieler mit Eigenwillen ab, der sich um seine öffentliche Wirkung nicht kümmerte. Eine neue Glätte hatte sich nicht nur im Spiel, sondern auch auf (oder in?) die Spielercharaktere übertragen. Zum obersten Gebot wurde die Berechenbarkeit – der Leistung, der Persönlichkeit. Das entspricht dem Wandel der Vereine zu Unternehmen, von denen die größten sich den Markt unter sich aufgeteilt haben, abgesichert durch Turniermodi, die es den kleineren Clubs zusätzlich erschweren, mitzuhalten. In Zeiten der Monopolisierung scheint es nicht einmal mehr nötig zu sein, das vorrangig betriebswirtschaftliche Interesse hinter Vereinshistorie und Traditionskult zu verbergen – die neue Kundschaft in Übersee und Asien weiß damit eh nichts anzufangen.

Man kann vieles davon, wie die beiden Herren im Buchladen, als Verbürgerlichung bezeichnen, wegen der typisch bürgerlichen Werte Sicherheit und Unternehmertum. Vielmehr aber ist im Fußball die allgemeine Durchökonomisierung, Automatisierung und Standardisierung zu sehen, die den klassischen Bürger mit seinem Sinn für Ästhetik ebenso überwunden hat wie das Proletariat. Übrig bleibt ein Produkt zur Unterhaltung einer Mittelschicht, die sich in Leistungsoptimierung und Erfolg versprechender Anpassung wiedererkennt – und wiedererkennen soll.

Diesen Gedanken in das immer noch mit marxistischem Unterton geführte, von meinem Wunsch zu zahlen unterbrochene Gespräch einzubringen überlegte ich, während der Antiquar prüfte, was ich bei ihm kaufen wollte. Als er mir den Preis nannte, erfasste mich jedoch ein Mitleid, das mich meine Überlegungen sogleich vergessen ließ: Die dünnen Bücher kosteten zwei Euro, die dicken drei.

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