Kultur

Den echten Leser

Daniil Charms’ Fälle in der Kellerfensternische gegenüber der Bar, in der sie Heidelberg nicht mögen, wie ein Zeichen – die Linksintellektuellen gehen. Sogleich das Bild von anderen Nischen, noch unverputzten, in denen ganze Stapel stehen mit Bänden Sinn und Form darin. An Kartons, in denen alte rororos liegen geblieben sind, schwarz-rot, 42 Zeilen die Seite […]

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Der Spiegel der S.

Die jungen Männer gegenüber, alle drei, mit akkurater Frisur, wortkargen Gesichtern, T-Shirts ohne Aufdruck, Geräten in der Hand. Einer von ihnen trägt Brille, mit dicken Bügeln, schwarzer Fassung, Typ sporttauglich-kompakt. Trügen die beiden anderen Brille, es wäre die gleiche oder eine ähnliche. Wahrscheinlich, denke ich, könnten sie ihre Leben tauschen, ohne sich verstellen zu müssen.

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Kulturgläubige

Es gibt ihn noch, den Bildungshuber und Kulturhansdampf, der sein Publikum von sich beeindruckt wissen will durch Künstlerhut, Bildungsprech und da und dort gelassen hingeworfenen Namen von Bedeutung. Wer ihn sucht, wird fündig nahe der, wie man sagt, Bildungszentren, aber nicht zu nah. Hier, wo Leute aus einer Mischung aus Unwissen, Unterscheidungsbedürftigkeit und echtem Kunstempfindenwollen

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Auf der Linie

Täglich fliegen die Dohlen ein, setzen sich auf die Brüstungen, die Zäune, die Spielgeräte auf dem Spielplatz. Fünfzig vielleicht, die allesamt im Auge behalten, was die anderen machen. Ob die was zu fressen finden, die die Dachrinnen entlangwandern, die Wiesen und den Asphalt absuchen, sich zu dritt in die Vogelhäuser zwängen, stets beobachtet von den

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Neujahrsvorsatz

Nichts aus sich machen, nicht an sich arbeiten, kein Ziel verfolgen, keine Erfolge erzielen, schlechter werden, Fehler machen, unfreundlich sein, unzufrieden sein, untätig, tatenlos, ahnungslos, Durchschnitt, sich nicht einmal schämen, sich klein machen, sich Feinde machen, sich dem Schicksal überlassen, sich langweilen und andere, die Zeit verschwenden, keinen Plan haben, scheiße aussehen, das so lassen,

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Die Vipern

Manche gehen durchs Leben, als hätten sie einen Termin mit ihm vereinbart, den es jetzt gefälligst einzuhalten hat. Sie deuten die eigenen Unzulänglichkeiten um zu einem Vorrecht auf besondere Behandlung, das eigene Leiden als Anlass zur Bewunderung. Sind sie von anderen abhängig, sehen sie den Diener in ihnen. Worin sie nicht gut sind, das wird

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Das Leben ein Entwurf

Wer will man gewesen sein? Was erreicht, gemacht, erlebt haben bis 30, bis 40, oder, Überschrift ganzer Listen zum Abstreichen und Punktesammeln: ‚before you die’. Das Leben wird im Futur II geschrieben und ein jeder ist sein eigener Kurator, als ob es eine große Endausstellung auszurichten gäbe mit Sektempfang und voll Vorerwartung auf das Publikum,

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Kants Erben

Vor der Arztpraxis wartet ein dicker Mann im Anzug, in der Hand eine Aktentasche. Alles an ihm strahlt missmutige Anspannung und die Bereitschaft aus, einem beliebigen anderen dafür die Schuld zu geben. Als sein Handy klingelt und er abhebt, richtet er sich auf und fordert den Anrufenden in professionellem Tonfall auf, ihn in zwei Stunden

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Zur Sicherheit (1)

Man erhält zur Sicherheit keinen Warnhinweis: Bei dauerhaftem Gebrauch Gefahr größer werdender Selbstunterbietung. Wie hoch der Preis der Sicherheit ist, wird verschwiegen. Mag sein, weil sie vielen wie umsonst erscheint – denen, die nie genialisch waren oder sich so fühlten. Oder aber es haben zu wenige auf der Freiheit gekippelt, ein Abgrund vorne, einer hinten.

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Über Wunden

Geiz: Überwinden. Enge: Überwinden. Feigheit: Überwinden. Kleinlich sein: Überwinden. Kleinmachen: Überwinden. Auftrumpfen: Überwinden. Starr sein: Überwinden. Rumjammern: Überwinden. Machen doch alle so: Überwinden. Aber ich wollte doch bloß: Überwinden. Sich bestrafen: Überwinden. Sorgen machen: Überwinden. Glotzen, Gaffen, Fresse ziehen: Überwinden. Bildung: Überwinden. Besserwissen: Überwinden. Aufklärung: Überwinden. Unselbständig: Überwinden. Ich ich ich: Überwinden. Sich beweisen: Überwinden.

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making sense

Erleichterung, wenn noch jemand weiß, dass etwas Sinn ‚ergibt’ – oder es zumindest sagt und damit teilhat an einem älteren, in der Sprache – noch – aufbewahrten Wissen, das allmählich verloren zu gehen droht. Stattdessen die Behauptung – denn mehr als eine Behauptung ist das nicht –, dass etwas Sinn ‚macht’. Und eigentlich nicht ‚etwas’,

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Die, die mit dem Leben spielen, und die, die mit ihm spielen

Man sagt, es gibt die, die schreiben müssen, und die, die es wollen. Es ließe sich bei denen, die es wollen, noch ein ‚nur’ einfügen und es wäre gekennzeichnet, woran es ihnen fehlt: dem Unbedingten, dem Opferbereiten, von mir aus auch: dem Existenziellen. Wer nur schreiben will, wird Journalist oder Sachbuchautor. Wer nur schreiben will,

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Der zweite Morgen

Punkt 18 Uhr 30 setzte ich mich in die leere Bar, in der ich noch sitze, untypisch für mich, mit dem Rücken zum Eingang an den Tresen. Ich wartete auf das Aufgehen der Eingangstür, um zu sehen, ob es zu irgendeiner Veränderung führt, ich bemerkte, als die Tür aufging, keine. Wer eintritt, dachte ich, wird

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Herzwurzler

„Die Vietnamesen haben ja wenigstens noch gekämpft!“, sprach markig der Herr im Sakko ins Handy am Ohr, als er an mir vorbeieilte im Bürgerkampfgebiet mit den Verniedlichungsformen auf den Ladenschildern. Vom Krieg meint man hier ja vielleicht zurecht etwas zu verstehen – eine legitime Täuschung, sozusagen. „Ein Jahr lang haben die sich noch gewehrt gegen

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Die Mutigen

Jedes Mal, wenn mir jemand, meist männlich und in Bomberjacke, begegnet, dessen Gesicht und Hals überzogen sind mit eintätowiertem Dornenornament oder den alten Erkennungszeichen der Häfltlinge, fällt mir ein Begriff aus dem Eisfach Luhmannschen Verwaltungssprechs ein: ‚Komplexitätsreduktion’. Gemeint sind: Vereinfachung von Entscheidungswegen und Verringerung von Ungewissheit – neben Zugehörigkeit, Anerkennung und Verbindlichkeit die Hauptmittel gegen

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Der falsche König

Der Sohn saß mit gesenktem Kopf auf dem Friseurstuhl, in den Händen das Gerät, auf dem es Punkte zu sammeln galt oder Gegner zu zerstören oder Hindernissen auszuweichen. Ihm wurden die Haare geschnitten von einer Friseurin ganz in Schwarz, über deren Können aus dem Hintergrund, mit über die Stirn geschobener Sonnenbrille, die Mutter wachte. Bei

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(Ent-)Scheiden können

Als letzte Woche beim Europameisterschaftsvorrundenspiel zwischen Dänemark und Finnland der Däne Christian Eriksen ohne Fremdeinwirkung auf den Rasen fiel, dort seltsam unbewegt liegen blieb, man schließlich seine ins Nichts starrenden Augen sehen konnte, war es, als kehrte ein Gegner aus uralter Zeit zurück, von deren Moder er sich Schockwellen verbreitend abschüttelte. In das Spiel brach

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Die ganze Wahrheit

Die kurze Form fordert die Bereitschaft zur Halbwahrheit. Dabei wird einem an den Universitäten, zumal in den Geisteswissenschaften, doch beigebracht, zu differenzieren. „Aber das kann man so nicht sagen!“, höre ich schon jemanden rufen, die Hand noch nicht einmal erhoben, um dem Seminarleiter zu zeigen, dass er einen Gegenstand auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten

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Ungefiltert

Erschöpft und aufgedreht von der durchtanzten Nacht, herrlich ungewaschen, liege ich im Morgenlicht auf der Matratze am Boden meines Zimmers im vierten Stock. Solchermaßen liegend schaue ich aus dem geöffneten Fenster. Das graue Haus von gegenüber, in dessen Fenstern man fortwährend das Fernsehprogramm der Bewohner verfolgen kann und dessen Balkon blickdicht mit Sonnenschirmen verstellt ist,

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Die Sprache zur Zeit

Beim Verfassen des vorangegangenen Textes über den Fußball ein seltsames Gefühl der Befremdung. Bereits mit den ersten Sätzen drängten sich Begriffe einer vorgefertigten Sprache auf. Es dürfte sich früher schon nicht gelohnt haben, über den Fußball zu schreiben. Eine Flanke ist eine Flanke, sie wird geschlagen. Das noch einmal zu sagen wirkt abgegriffen, es anders

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Bürgerliches Trauerspiel

Als ich zuletzt in einem Neuköllner Bücherantiquariat war, unterhielten sich der Antiquar und ein Stammkunde über die Verbürgerlichung des Fußballs. Sie zeichneten sie nach vom arbeitsteiligen Kick-and-Rush der englischen Arbeiterklasse hin zum alle gleichermaßen einbindenden Ballbesitzfußball à la Guardiola in Zeiten der familienfreundlichen Stadien und des Investments. Hatten die nach dem politisch begründeten Ausschluss Jugoslawiens

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Die deutschen Sprachen

Der größte Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern, meinte Karl Kraus, sei die gemeinsame Sprache. Tatsächlich bleibt es für den deutschsprachigen Südländer befremdlich, dass es im Norden „hagelt“, während es im Alpenvorland gerade einmal „graupelt“. Oder wenn bereits „klettert“, wer immerhin „berggeht“ – wobei im Norden schon ein „Hügel“ „Berg“ sein kann und „gehen“ „laufen“ heißt,

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