Auf der Linie

Täglich fliegen die Dohlen ein, setzen sich auf die Brüstungen, die Zäune, die Spielgeräte auf dem Spielplatz. Fünfzig vielleicht, die allesamt im Auge behalten, was die anderen machen. Ob die was zu fressen finden, die die Dachrinnen entlangwandern, die Wiesen und den Asphalt absuchen, sich zu dritt in die Vogelhäuser zwängen, stets beobachtet von den zweien auf dem höchsten Baum ganz oben, während ich hier unten am Fenster lese von der Securitate, die den Leuten, wenn sie nicht zuhause sind, in die Wohnungen geht, dort Dinge verstellt, den Küchenstuhl in den Flur, einen Schuh auf den Kühlschrank, eine Kleinigkeit nur, die zeigen soll, es kann noch ganz anders kommen. Ich lese von dem Zensor in Funktionärsbekleidung, der, pedantisch, prüde, wie ein Wirtschaftsprüfer, den Text der Dichterin absucht nach Wörtern und Wahrheiten, vor deren Verbreitung die Diktatur sich fürchtet. Ich lese von der Lektorin aus Deutschland, 68er, die auch Vorstellungen hat davon, was der Text sagen soll und was besser nicht über das Reale im sogenannten Realsozialismus. Und während die Dohlen die Spatzen verdrängen und das Haus gegenüber bestürmen, erinnere ich mich, was letzter Tage, anderswo und eine andere Diktatur betreffend, an die Unbescholtenen gerichtet war – dass es nämlich nicht die Peiniger gebe und die Gepeinigten, sondern nur die Verführten und die Verschonten, und dass man sich, lässt sich anfügen, auf Verschonung nichts einzubilden braucht. Und wie ich daran denke, weiß ich wieder, dass mir seit Wochen der Begriff ‚Mitläufer’ durch den Kopf geht, als wartete er auf seinen Einsatz, und dass ich mir, während er mir so herumgeht hinter den Augen, die meisten, die wenigsten sind es ja nie, vorstellen kann als Mitläufer, Mitmacher, Mitschwimmer, und besonders die, die sich über jeden Verdacht erhaben fühlen. – Und bei dem Gedanken sehe ich die Dohlen drauflosfliegen wie Schergen und wie Wärter auf ihrem Ausguck sitzen, um sie gleich wieder herüberkippen zu sehen in ihr Bild als Clowns im Mönchskostüm, als Hochnervöse und Halbstarke, die nur wild tun, aber davonfliegen, wenn man ihnen nahe kommt. Und dann denke ich mir die Grenze zwischen Gut und Böse als eine scharfe Linie, die mitten durch uns hindurch verläuft wie ein gespanntes Seil, das wir manchmal überspringen müssen, damit wir nicht stolpern, wenn wir ‚ich’ sagen wollen. Ein Seil, das manche aus sich raus haben wollen und die so tun, als liefe es um sie herum, und als stünden sie, natürlich, auf der richtigen Seite, von der aus sie es anderen vor die Füße halten können, um zu sehen, ob jemand drüberfällt. Denn wenn jemand fällt, können sie richten, die Richtigen. – Und wenn ich jetzt noch einmal hinausschaue, die Dohlen gehen sehe an den Dachkanten, dann erscheinen sie mir als Seiltänzer, hoch oben über der Angst vor dem Absturz, und das Bild stimmt.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert