Der zweite Morgen

Punkt 18 Uhr 30 setzte ich mich in die leere Bar, in der ich noch sitze, untypisch für mich, mit dem Rücken zum Eingang an den Tresen. Ich wartete auf das Aufgehen der Eingangstür, um zu sehen, ob es zu irgendeiner Veränderung führt, ich bemerkte, als die Tür aufging, keine. Wer eintritt, dachte ich, wird sich auch zeigen, die Begrüßung des Barmannes: der des freundlichen Gastgebers Fremder, das genügte. Ich hörte hinter mir die heisere, aber laute Stimme des Gastes, darin etwas, das mir das Hochnicken seines Kopfes verriet, als er sagte: „N Helles.“

Der schon-wissende Blick des Barmannes bot dem Gast ein Gefühl der Verbundenheit an, das er bereitwillig annahm und mich erwarten ließ, dass er sich gleich auf den freien Platz neben mich setzt. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, wie er an einen der Tische ging – für Missverständnisse, wussten wir beide, war es zu früh.

Jetzt schaue ich auf zum Barmann, betrachte seine gerade Haltung, die Ruhe, mit der er in den Raum sieht ohne sich ablenken zu lassen – im Leben zu stehen wie in einer Bar, die man selber führt, das könnte einmal eine Antwort sein.

Die Ruhe in einer fast leeren Bar um 18 Uhr 30 unterscheidet sich von jener nach Ladenschluss, wenn nur die Stammgäste und die für einen Abend Miteinbezogenen umgeben von zur Decke zeigenden Stuhlbeinen noch unter sich sind und die Pausen zwischen dem Gesagten länger werden – die Ruhe am frühen Abend ist eine des Einkehrens, des Nichts-mehr- oder Noch-nichts-Wollens, vor allem: es lässt sich in ihr noch einmal klar denken wie an einem zweiten Morgen. Die Ruhe danach hingegen ist eine des Nach-Fühlens und schon Halbdahinträumens – Beginn und Ende als Unschuld und Läuterung.

Während ich auf das nächste Bier warte, schaue ich zu den Leuten, die mittlerweile um mich sitzen, zu denen an den Tischen, und merke, ich fühle mich ihnen nahe, daran ändert auch das Aufeinandertreffen unserer Blicke nichts.

Bei den ersten Tönen von ‚Smalltown Boy’ spüre ich das Wohlbefinden beim Wiedererkennen der Melodien aus frühester Kindheit – vor mich kommt das Bild vom Verkaufsraum des ehemaligen Gemischtwarenladens in der Straße, in der ich aufgewachsen bin: die weißen Kacheln mit den schwarzen Punkten am Boden, die anders bestückten, nicht mehr beschreibbaren Regale von vor 30 Jahren – und ich sehe mich selbst, wie ich an der Kasse stehe in zu großer und zu bunter Kleidung und mir jene Kaugummis von meinem Taschengeld kaufe, die eingewickelt waren in die Abziehbilder von amerikanischen Wrestlern in Posen. Ich habe sie in meinem Zimmer, über Kopfhöhe, ans Hochbett geklebt, bei dem Versuch, mich an ihre Namen zu erinnern, fallen mir ein: The Undertaker, Brett ‚The Hitman’ Hart, Hulk Hogan, Yokozuma – die Namen kommen mir vor wie Beschwörungen, wie Formeln, auf die tiefer im Körper etwas Antwort gibt.

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