Kants Erben

Vor der Arztpraxis wartet ein dicker Mann im Anzug, in der Hand eine Aktentasche. Alles an ihm strahlt missmutige Anspannung und die Bereitschaft aus, einem beliebigen anderen dafür die Schuld zu geben. Als sein Handy klingelt und er abhebt, richtet er sich auf und fordert den Anrufenden in professionellem Tonfall auf, ihn in zwei Stunden noch einmal anzurufen. Wer auch immer ihn angerufen hat, soll ein ganz anderes Bild von ihm erhalten, als er es gerade wirklich abgibt; sich vielleicht vorstellen, der Angerufene befinde sich gerade in einer wichtigen Konferenz oder in einer Phase konzentrierten Arbeitens.

Das Haustor öffnet sich und die Wartenden gehen über das Treppenhaus zur Arztpraxis. Vor deren Tür steht bereits eine Frau. „Absolut unverschämt“, bricht es aus dem Mann heraus, der nun seine Erstplatzierung verloren hat. „Wieso? Ich warte hier bereits seit kurz vor acht“, erklärt die Frau. „Absolut unverschämt… Das nächste Mal stellen sie sich gefälligst hinten an. Überlegen Sie mal, wenn das alle so machen würden!“ Die Frau verstummt und wendet sich achselzuckend ab.

In Deutschland gibt es ein Rowdytum der Regelbefolger, die auf ihr Recht selbst dann bestehen, wenn die Situation unklar und der ihnen entstehende Schaden minimal ist.  Andere zu maßregeln ist ihnen wichtiger, als ihr Gesicht zu wahren. Bei manchen verselbständigt sich dieses Bedürfnis vollkommen und der strafende Gestus wird zum unterschiedslos angewendeten Normalfall. Die Sprechstundenhilfe, auf die die Wartenden kurz darauf treffen, empfängt jeden Patienten mit einem „Was wollen Sie?“ und die Frage klingt, als hätte man sie nachts in ihrer Privatwohnung mit Sturm-Klingeln geweckt. Weiß man über diese Angewohnheit von ihr Bescheid, hat sie etwas Liebenswertes – etwas vom Versuch, sich gegen die Zwänge ihres Berufsalltags aufzulehnen, die nachvollziehbare Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden.

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