Die nach außen zurückgestülpte Heimat

Beim Wiederlesen von Handkes Jugoslawienbüchern ein ähnliches Gefühl, Zeuge einer Konsternierung zu werden, wie bei Pasolinis gesammelten Gesprächen. P.s Volk, für das er sich die Revolution wünscht, die es aber gar nicht machen will, ist bei H. jenes, das einen eigenen Staat möchte, obwohl es das – eigentlich – gar nicht tue. P. muss zusehen, wie sein verehrtes Subproletariat mit seiner eigenen Sprache und Kultur sich zu Kleinbürgern machen lässt für ein Auto und einen Fernseher, H., wie das Neunte Land die Europafahne hisst und sein Auch-ganz-anders-Können verspielt. Und während sich P. gezwungen sieht, seine öffentlichen Aussagen zurückzunehmen, weil sie nicht mehr stimmen, wenn die Falschen, die bürgerliche Jugend nämlich, sie übernehmen, äußert H. sich, weil die Richtigen sagen, was – jedenfalls so – nicht stimmen kann, auch wenn es nicht wirklich falsch ist – die unbefragte Ausgemachtheit der Berichterstattung zum Jugoslawienkrieg Anfang der 1990er-Jahre.

Beide stehen sie auf verlorenem, immerhin aber reich bevölkertem Posten – dem der Verlustzähler und Ursprünglichkeitssehnsüchtigen. Man trifft sie in den ungeschliffenen Städten, wo die Fassaden noch gewahrt werden statt gefälscht, als Touristen, Reisende, Pilger, oder an den Rändern, den inneren wie den äußeren, wo auch die Verrückten sind. Sie machen dort Urlaub vom Getriebe, streifen aus der Wirklichkeit hinaus ins Echte, ein jeder mit seinem eigenen Slowenien, Friaul, Kalabrien. Mitunter ist man auch einander Urlaub, gedankliches und sprachliches Rückzugsgebiet, Kapsel im fortwährend Bewegten, Bebauten, den Meistbietenden zum Verkauf Stehenden. Einander ist man mehr Urlaub als die tatsächlich Ursprünglichen, tatsächlich Echten, die einem spiegeln, wie sehr man selbst in der Moderne Verhedderter ist und bei jeder Regung Gefahr läuft, sich weiter zu verheddern.

Die Bewunderung für das Urtümliche ist Ausdruck des eigenen Verlusts, der Suche nach dem Wegerzogenen, Weggelernten, dem Weggekauften, dem man sich nachärgert wie einer, den man über den Tisch gezogen hat. Dabei hat man auch noch selber mitgemacht, weil man dazugehören wollte zu denen, die haben, die wissen, die öffentlich wirksam geachtet werden. Nachahmen, Nachsprechen, Einüben, das Eigene verkümmern lassen, wo es nicht gefragt ist, die Herkunft verleugnen, dazugehören. Die Bildungsaufsteiger wissen Bescheid, oder sie ahnen es zumindest. Wer dann aber, oben halbangekommen, einen guten Blick hat, sich auszukennen beginnt, noch merkt, dass da auch etwas anderes ist, das sich dort oben aber nicht finden lässt, und der daher anfängt weiterzusteigen, Übersicht gewinnt und entdeckt, dass das Verlorene nicht aufgewogen werden kann – der wird auch auf sich selbst schauen und erkennen. Und der wird zunächst den Weg, der jetzt ein anderer ist, versuchen zurückzugehen, um nachzuschauen, was liegen geblieben ist und ob es sich noch einmal aufheben lässt. Und wenn aber nichts mehr zu finden ist – andere Wege gehen, durch die Gegenden, die nicht poliert und fein herausgemacht sind, und die sich noch das Wilde, das Wunderbare, das Widerständige, immerhin, andichten lassen.

Umso schlimmer, wenn diese Gegenden auch erfasst werden vom mächtigen Getriebe, beginnen, geschmeidig zu werden, und sich an die Zuflüsse aus den Zentren anschließen lassen. Wenn sich auch dort die Menschen, wie sie waren, ködern lassen und sich zu schämen beginnen, weil ihnen, mit ihren Bräuchen und den alten Gesten, die Plakette „rückständig“ angeheftet wird. Dann heißt es, im Außen mitansehen müssen, was einem selbst im Innern widerfahren ist. Es heißt auch, den Glauben aufzugeben, doch noch gefunden zu haben, wonach man in Wirklichkeit noch immer auf der Suche war. Also die Zelte wieder abbrechen, die Landschaft als eine innere einpacken und mit sich tragen wie die Erinnerungen an das Davor der Kindheit. Dann aber ist sie zum Schatz geworden, den es, bei aller Vergeblichkeit, zu verteidigen gilt, ist das Erhalten der inneren Landschaft doch ein Erhalten seiner selbst, eines Eigenen.

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