Der Wal als Spiegel

10 Jahre Berlin. Anlass, wieder einmal nachzudenken über damals, als ich hier ankam, oder aufschlug, wie gesagt wird, weil es irgendwie wilder klingt oder abgebrühter. Ich war damals, gerade noch, selbst in dem Alter, in dem man diese Abgebrühtheit haben oder, weil man sie nicht hat, ausstellen will, um vorzugeben: Ich weiß Bescheid, mir macht keiner was vor. Natürlich lässt man sich dann doch was vormachen, vor allem von sich selber – das machte die Begeisterung ja erst möglich, für die Stadt, die Nacht, den Dreck, die Auf- und Abstürze in den Sonnenaufgang hinaus. Die Stadt war so lange aufregend, solange es intensiv war – ob oben oder unten, war egal. Nach einem halben Jahr war dann wieder klar, dass das Leben sich nicht schneiden lässt wie ein Videoclip. Und nach noch einem halben Jahr dann das Bild, das das Ende des Zaubers endgültig markierte: In einer Bar, beim Betrachten der Trinkenden um mich, die Vorstellung, dass alle an ihren Flaschen nuckeln wie die Babys. Das war’s. Ich war wieder eingeholt, von mir selbst, dem ich immerhin ein Jahr lang entkommen war. Ich kam mir vor wie die fleischgewordene Nüchternheit. Was folgte, waren die illegalen Jahre. Nicht illegal, weil verbrecherisch. Aber in den Jahren, als die ersten, und dann immer mehr herumliefen mit dem Aufdruck ‚Kein Mensch ist illegal’, fühlte ich mich genau so. In Wirklichkeit war es schlimmer als verbrecherisch – Kampf auf Leben und Tod mit dem unsichtbaren inneren Richter: Du sollst, du darfst nicht, das macht man nicht so. Leeres Um-sich-Schlagen bei permanentem In-den-Hinterhalt-geraten-Sein. Wenn die äußeren Grenzen eng sind, ist es leicht, sich frei zu fühlen, schwierig wird es, wenn man immer wieder aufs Neue von den eigenen, inneren Grenzen zurückgeschlagen wird. Also absteigen bis zu ihrem Anfang, hinuntertauchen, wo das eigene Schreien schwimmt und das Untote töten. Die Größe der Stadt hat sich gezeigt, als sie mir klein und eng erschien und ich, neuer Abschnitt, zum ersten Mal dachte: Oje, kaum Erwachsene hier. Dann die Jahre der allgemeinen Eingeschlossenheit, die mir vorkamen wie eine Entlastung, weil die herrschende Vernunft an ihr Ende kam. Seither liegt die Stadt für mich da wie ein gestrandeter Wal, und was er sagt, höre ich zum hundertsten Mal.

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