Kinder Gottes

In der geräumigen, schwach ausgeleuchteten Wohnung fand die Geburtstagsfeier von Julia statt. Die Kinder spielten Räuber und Gendarm und rannten durch den gewundenen Gang und die zahlreichen holzvertäfelten Räume. Ich saß auf einem schwarzen Ledersessel im Wohnzimmer, vordergründig in ein Buch vertieft und hörte ihr Lachen und Schreien. Wie alle fremden Kinder, die sich in Gruppen zusammenschlossen, strahlten die jungen Gäste auf mich eine Souveränität aus, die einschüchternder war als die Autorität der Erwachsenen. Etwas klirrte laut. Ich ging auf den Gang und sah, dass der Dielenboden vor Nässe dunkel war und überall Scherben lagen.

 

Die Eltern des Geburtstagkindes waren aus Jugoslawien nach Deutschland geflohen. Die Haut auf dem Gesicht der Mutter, einer Ikonenmalerin, bestand aus verschiedenen Farbflächen, manche zartrosa, andere braun, an einigen Stellen hob sich ein gummiartiges Gewebe ab. Der Vater war russisch-orthodoxer Priester und nur selten zuhause. Die Familie hatte fünf Kinder. Ich bewunderte vor allem die älteste Tochter Agnia, eine blonde Schönheit, die ihre Zimmerwände und die hohe Decke vollständig mit Postern beklebt hatte. Die Plakate überlappten einander, unter ihnen zeichneten sich Schichten von Kleber ab und an einigen Stellen wellten sie sich, wodurch sich eine plastische, ornamentale Struktur bildete. Ihr kleines Gotteshaus hatte Agnia Eminem gewidmet, was ihrem Vater missfiel. Vielleicht erkannte er die Ähnlichkeit nicht, die er selbst – mit dem riesigen Kreuz an seiner Goldkette über der schwarzen Robe – zu einem amerikanischen Rapper hatte. Vielleicht fühlte er sich gerade durch diese Ähnlichkeit von seiner Tochter verhöhnt. Auch die Mutter war unglücklich über die Eminem-Verehrung. Sie klagte darüber, dass ihre Tochter tägliche, per SMS übermittelte Liebesbekundungen eines Mitschülers ignorierte, weil für sie einzig Eminem infrage kam. Ich hingegen bewunderte die Widerstandskraft, mit der sich die Tochter dem Verfügbaren – dem, der gut genug war – verweigerte und auf ihre Vorstellungen von Glück beharrte, auch wenn sie wusste, dass diese in den Augen anderer lächerlich waren.

 

Man könnte glauben, Freiheit und Individualität beginnen im Erwachsenenleben, wenn genügend Zeit war, sich von der Familie zu lösen und den genetischen Einflüssen diejenigen einer selbst gewählten Gesellschaft entgegenzusetzen. Bei den meisten ist jedoch das Gegenteil der Fall: In ihrer Jugend haben sie eine natürliche Lebenskraft, die es ihnen erlaubt, sich als Einzelne zu behaupten. Mit der Zeit wird diese Kraft schwächer, das Individuelle fällt von ihnen ab, bis sie zu Exemplaren ihrer Herkunftsfamilie und ihres Milieus werden, und sie schließlich, wenn sie sterben, auch diesen letzten Rest einer Form aufgeben.

 

Aus der Küche kamen Schmerzensschreie. Als ich dazukam, waren die Kinder um den Esstisch in der Ecke versammelt, auch die Mutter stand dabei. Unter dem Tisch kauerte ein Junge. Er schrie immer noch und kratzte sich am ganzen Körper. Ich konnte sehen, dass die Haut am Hals, den Ellbogen und den Schienbeinen offen und blutig war, in anderen Bereichen rot und schuppig. Die Mutter versuchte, ihm eine Salbe auf die Wunden zu schmieren, was er heftig abwehrte. Die Kinder hielten ihm Fruchtgummis und Schokolade hin. Das Schreien wurde zu einem leisen Schluchzen, der Junge wand sich auf dem Boden. Es verging vielleicht eine halbe Stunde, ohne dass er sich beruhigte. Dann fing das Geburtstagskind selbst an, heftig zu weinen. Die Mutter warf ihr einen entsetzten Blick zu. Mit dem roten Gesicht und den verschränkten Armen machte Julia den Eindruck, dass nicht Mitgefühl, sondern Zorn über die abgebrochene Feier der Anlass ihrer Tränen waren. Kurz darauf wurden alle Gäste abgeholt und die Mutter stritt heftig mit ihrer Tochter.

 

Jahre später besuchten wir Agnia, die inzwischen Anfang zwanzig war, einmal im Krankenhaus. Durch das geöffnete Fenster kam ein frischer Wind und Vogelgezwitscher, sie lag im weißen Nachthemd auf dem weißen Bett. Ihre Augen und Zähne blitzten im Sonnenlicht, als sie breit lachte. Ich hatte Angst vor Krankenhäusern und war erleichtert, dass sie so gesund aussah. Auf ihrem Nachttisch lag ein Buch, bei dem ich aus der Reaktion der Erwachsenen schloss, dass es intellektuell anspruchsvoll war. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Meine Mutter erzählte mir, sie habe kurz darauf Theologie studiert und mit Mitte zwanzig geheiratet. Im Internet finde ich ein Bild von ihr, auf dem sie 10 Kilo schwerer als in meiner Erinnerung aussieht. Auch ihr Lachen ist verändert und ähnelt nun dem jener Frauen, die mit ihrem Leben zufrieden sind oder glauben, es sein zu müssen.

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