Ehrgeiz und Erlösung

Die Luft in der Wohnung war abgestanden und das Licht durch die dunklen Vorhänge dämmrig. Felix hatte mir einen Besuch bei Norma mit den Worten empfohlen, wir würden uns gut verstehen.  Norma verbrachte seit vier Jahren die meiste Zeit lethargisch in ihrem Schwingstuhl. Sie war Schriftstellerin und hatte vor vier Jahren einen Roman geschrieben, der ihr in ihren Augen ausgezeichnet geglückt war, ja, mit dem sie dachte, beinahe ihr gesamtes komplexes Seelenleben und Weltverhältnis in eine präzise und verständliche Sprache gebracht zu haben. Das Buch war veröffentlicht und ein paar Mal besprochen worden, und hatte sich besser verkauft als der Verlag erwartet hatte. Für Norma war es trotzdem eine Enttäuschung. Was ihr nämlich erst nach der Veröffentlichung klar wurde: Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass eine vollkommene Sichtbarmachung ihres Selbst unweigerlich bei den Lesern zu großer Liebe führen müsse. Jegliche Nichtbeachtung, Verkennung oder Ablehnung seitens ihrer Mitmenschen, so wurde ihr nun klar, hatte sie sich mit der noch nicht gelungenen Sichtbarmachung erklärt. Doch die Buchveröffentlichung hatte zu keiner ernstzunehmenden Liebe seitens der Leser geführt und das hatte sie in eine Krise gestürzt. Sie brütete seitdem über den möglichen Schlussfolgerungen: 1. Ihr Buch war doch nicht die geglückte Selbstsichtbarmachung, für das sie es gehalten hatte. Aber sie wusste, dass sie es nicht besser konnte und also in diesem Fall entweder ihre Ausdrucksfähigkeit oder ihre Selbsterkenntnis unabänderlich beschränkt waren. 2. Die Leser waren dumm und abscheulich. 3. Die Leser verheimlichten ihre Liebe. 4. Sie verstand die Liebe der Leser nicht. 5. Ihr sichtbargemachtes Selbst war nicht so liebenswert, wie sie gedacht hatte. Sie wippte in ihrem Stuhl und ging die Möglichkeiten durch, die sie alle unerträglich fand. Auf meine Frage, ob ich etwas für sie tun könne, reagierte sie nicht. Ich öffnete ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Auf der Straße sah ich einen Mann in Sportbekleidung. Er hatte einen Gegenstand in der Hand, der aussah wie ein Messer. Norma beschwerte sich über den Zug und ich schloss das Fenster. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören.

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