Berlin, Winter 2012 (3/3)

Auf einen Zettel schrieb ich mir Ideen zum Glücklich-werden zusammen: Durch Selbstkontrolle und indem man sich gehen lässt, durch Einfach-man-selbst-Sein und durch Das-Beste-aus-sich-Machen, durch Kontemplation, Bescheidenheit, Altruismus, Arbeit, Sex, Egoismus, Aufarbeitung der Vergangenheit, Vergessen der Vergangenheit, keine Erwartungen haben, Sich-klare-Ziele-Stecken, Neue Erfahrungen, So-tun-als-ob-man-glücklich-Wäre, Sich-sagen-dass-man-glücklich-Ist, Das-Glück-in-den-kleinen-Dingen-suchen, Nichts-für-unmöglich-Halten, Selbstvergessenheit, Beziehung beenden oder anfangen, Aufhören-zu-Denken, Anders-Denken, Nichts-auf-die-Meinung-der-anderen-Geben, Sich-einfach-mal-Einlassen, Religion, Wissenschaft, Kunst, Offenbarung, Erlösung, Tod (meiner Feinde oder meiner Familie).

Dass ich mir keinen größeren Kontext geben konnte, erschien mir als Mangel. War ich mit meinen momentgebundenen Empfindungen und Wünschen, die entweder verpufften oder hinuntersackten, jedenfalls keine gegliederte Kette von Handlungen in Gang setzten, nicht noch auf untermenschlicher Stufe? Doch wenn ich an die Pläne der anderen dachte, so verlangten die zwar Kontrolle und Koordination, sollten aber letztlich nur dazu dienen, satt und warm und in Gemeinschaft zu sein, Kinder zu zeugen und von anderen nicht angegriffen zu werden. Zwar vielleicht alles auf anderer Stufe, nicht nur satt und warm, sondern reich, nicht nur vergemeinschaftet, reproduziert und sicher, sondern berühmt, aber dennoch, waren das nicht auch eigentlich tierische Ziele, die die Tiger eleganter erreichen? Ich suchte nach etwas Höherem, fand aber nichts, was sich gegen den Einwand bloßer Einbildung verteidigen ließ.

Was keine Form hat, ist bloße Materie, und das gibt es eigentlich gar nicht. Die Formen sind ewig und unentstanden und aller ungeformter Inhalt ist bloß auf die Form hin zu denken, also noch im Entstehen oder schon im Zerfallen, als defizienter Modus. Was aber, wenn jede Ordnung falsch erscheint? Unordnung entsteht aus Faulheit, behauptet mein Vater und ich denke trotzig, dass doch auch die Ordnung faul ist. In der FAZ lese ich, dass die Menschen seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer klüger geworden sind. Ein russischer Provinzbauer vor hundert Jahren beantwortete die Frage, was ein Fisch und ein Vogel gemeinsam hätten, mit „Nichts, denn zwar kann der Vogel den Fisch fressen, schwimmt dieser zu dicht an der Wasseroberfläche, aber andersherum ist das nicht möglich. Das zeigt aber vielleicht nur, dass „Tier“ als gemeinsame Kategorie überhaupt nicht so wesenhaft wahr ist, wie wir denken.

Ich saß in der S1 und bemerkte den Mann gegenüber, dessen geschwollene Adern wie Wurzeln um seine Arme lagen. Er war der einzige, dessen Haar vom Fahrtwind zerzaust wurde, als stände er ausgeliefert, auf offenem Feld. Für alle anderen Fahrgeäste schien Windstelle zu herrschen. Es erschien mir zunehmend unsicher, dass wir in einer geteilten und von objektiven Gesetzen bestimmten Wirklichkeit leben. Hat man den Zweifel einmal, lässt er sich nicht wegbeweisen.

Doch dachte ich in anderen Momenten, dass das Gefühl der Unwirklichkeit lediglich eine Trotzreaktion wegen all der versagten Wünsche war. Gerade weil die Wirklichkeit so schlecht mit meiner Wunschstruktur zusammenpasste, kam sie mir irreal vor. Dabei war das ja im Gegenteil ein Anzeichen für die unabhängige und von meinem Inneren ganz unbeeindruckte Realität.

Welche Freude dann, stellte sich die gewünschte Verbindung von Innen und Außen, Geist und Welt, doch einmal her: Ich saß in der Bibliothek in der Brunnenstraße und drückte den Schalter der Schreibtischlampe. Einen Moment nur verzögert tat es mir die Frau am Nebentisch gleich. Ich war entzückt und fiel augenblicklich zurück in die kindliche Überzeugung, magische Kräfte zu besitzen.

Von magischen Vorstellungen geprägt war auch meine Angewohnheit, meine Mails stündlich mehrere Male abzurufen. Ich erhoffte mir davon nichts weniger als die entscheidende Nachricht. Vielleicht hoffen auch all die anderen, die sich über ihre Smartphones beugen und sie liebevoll streicheln, auf eine frohe Botschaft und die Annahme, sie seien stumpf und oberflächlich, ist falsch. Vielleicht trifft das sogar auf die Likes- und Anhänger zählenden Instagram-Nutzer zu, bei denen sich sozusagen eine magische Zahl einstellen muss, wie ja auch das Alte Testament voller bedeutender Zahlen ist.

An einem Tag im März saß ich auf einer Bank auf dem Koppenplatz. Erste Sonnenstrahlen des Frühlings wärmten mein Gesicht, Touristen zogen vorbei. Ich telefonierte mit meinem Vater, erzählte ihm, wie es mir ging in Berlin. Konnte es nicht richtig sagen, wusste nicht mehr, wie das geht, sprechen, und konnte mit meinem Vater noch nie sprechen. Ich wusste aber, dass es gut war, zu sprechen, dass es Zeit des Tages verbrauchte und dass es meinen Restverstand an mich schnürte. Wenn man sprechen einmal gelernt hat, verlernt man es nicht. Es läuft einfach weiter, wie Fahrradfahren. Unter den Passanten sah ich eine ältere Frau mit hartem Gesicht. An ihrer Seite war ein blondes Mädchen, vielleicht drei, vier Jahre alt, unter dem Arm hatte es einen Stoffhasen. Das Mädchen ging mit mechanischer Präzision auf mich zu, blieb dicht vor mir stehen und setzte mir den Hasen auf den Schoß. Ich erwähnte den Zwischenfall am Telefon. Das Kind sah mich an, stumm und ohne zu blinzeln, drückte es mir das Stofftier in die Oberschenkel. Sein hübsches Gesicht leuchtete und ließ den Hintergrund verschwimmen. Mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Die Frau rief mehrmals nach dem Kind, das regungslos stehen blieb. Schließlich kam seine Begleiterin und zog es am Arm mit sich fort. Als ich später in meiner Wohnung war, fragte ich mich, ob ich nun wirklich dabei war, verrückt zu werden.

Ich beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte. Zwar kam mir der Zustand, in den ich zu Anfang des Winters geraten war, ehrlicher vor als der, in dem ich mein Leben zuvor verbracht hatte, aber er vertrug sich nicht mit dem Wunsch, zufrieden zu leben. Ich versuchte mich selbst zu resozialisieren, indem ich die äußeren Gewohnheiten, die ich in den letzten Monaten aufgegeben hatte, wieder annahm. Ich wusch mir mehrmals die Woche die Haare, tuschte mir die Wimpern und sprach mit Menschen in meinem Alter, über Dinge, für die sie sich interessierten.

Irgendwann wurde es Sommer und meine Ratlosigkeit erschien mir weniger drückend. Manchmal war ich glücklich, wenn ich langsam eine der Straßen in Mitte entlang ging. Die Wärme strahlte vom Asphalt nach oben und man konnte sich treiben lassen. Im Sommer ist Berlin oft unerhört schön.

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